Main image for post Arbeitsmärkte rund um die Welt: Deutschland

Deutschland erlebt eine „Vollbeschäftigungs-Rezession"

Wichtige Erkenntnisse:

  • Der wirtschaftliche Abschwung in Deutschland wird durch den schwächelnden Industriesektor unterstrichen.
  • Wie die japanischen „Vollbeschäftigungs-Rezessionen" hält auch in Deutschland die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt trotz der wirtschaftlichen Herausforderungen an, bedingt durch den demografischen Wandel und Unternehmen, die Mitarbeitende nur zögerlich gehen lassen.
  • Da die Wirtschaft mit Gegenwind zu kämpfen hat, sollten Personalvermittler*innen mit einem anhaltenden Arbeitskräftemangel, längeren Vakanzzeiten und steigenden Einstellungskosten rechnen.
  • Solche Arbeitsmarkttrends in Deutschland deuten darauf hin, dass die Eurozone als Ganzes vor ähnlichen Herausforderungen steht, während sich die demografischen Verhältnisse ändern und „Vollbeschäftigungs-Rezessionen" alltäglicher werden.

Das Wirtschaftswachstum in Deutschland ist schwach

Das deutsche Wirtschaftswachstum hat in den letzten Jahren enttäuscht. Deutschland ist die einzige große europäische Volkswirtschaft, deren BIP immer noch leicht unter dem Niveau vor der Pandemie liegt – der kranke Mann Europas also.

Der von vielen Prognostiker*innenfür 2023 vorhergesagte massive Wirtschaftseinbruch aufgrund der Energiekrise ist zwar nicht eingetreten, aber das Wachstum war extrem schwach. Ende letzten Jahres fiel Deutschland in eine technische Rezession; zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem BIP-Wachstum und neuere Daten deuten auf eine weitere Schrumpfung im Jahr 2023 hin.

Ein wichtiger Grund für die schwache Performance Deutschlands ist, dass das Land immer noch stark von seinem Industriesektor abhängig ist, der seit etwa 2018 kein Wachstumsmotor mehr ist. In der deutschen Automobilindustrie, einem der wichtigsten Industriezweige des Landes, ist die Produktion deutlich zurückgegangen. Die deutsche Industrieproduktion als Ganzes stagniert.

Während es im Zuge der wirtschaftlichen Erholung Anfang 2021 einen kleinen Aufschwung gab, zeigt der Purchasing Managers Index (PMI) einen deutlichen Rückgang im deutschen Industriesektor seit Ende letzten Jahres (Werte unter 50 bedeuten eine Schrumpfung). Der zusammengesetzte (composite) PMI ist ebenfalls gerade unter 50 gefallen, was darauf hindeutet, dass auch der Dienstleistungssektor weiterhin schrumpft.

Erst Japan, jetzt Deutschland und die Eurozone: „Vollbeschäftigungs-Rezessionen"

Trotz der schlechten Wirtschaftsleistung in letzter Zeit ist der deutsche Arbeitsmarkt nach wie vor äußerst angespannt. Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass Japan das erste Land war, das in den letzten Jahrzehnten mehrere Rezessionen erlebte und gleichzeitig eine sehr niedrige oder sogar sinkende Arbeitslosenquote hatte. Das liegt daran, dass die Bevölkerung Japans seit 2010 schrumpft. Mit einer rasch schrumpfenden Erwerbsbevölkerung ist das Trendwachstum des BIP in der Wirtschaft erheblich zurückgegangen. Darüber hinaus ist auch die Produktivität seit Ende der 1990er Jahre enttäuschend, was die Wachstumsraten weiter unter Druck setzt.

Japans Arbeitslosenquote ging also weiter zurück, obwohl die Wirtschaft stotterte, einfach weil sich das Problem des Arbeitskräftemangels mit der Zeit verschärfte.

Deutschlands Arbeitskräftemangel verschärft sich angesichts der alternden Bevölkerung

Sowohl eine ungünstige demografische Entwicklung als auch mittelmäßiges Produktivitätswachstum können erklären, warum schnell alternde Volkswirtschaften wie Japan und Deutschland eine solche „Vollbeschäftigungs-Rezession" erleben – eine wirtschaftliche Schrumpfung in Verbindung mit einem starken Arbeitsmarkt.

In Deutschland haben alle Konjunkturabschwünge seit der Finanzkrise von 2008 nur zu einem vorübergehenden und sehr schwachen Anstieg der Arbeitslosenquote geführt, der anschließend wieder zurückgegangen ist.

Zwar spielen auch institutionelle Faktoren eine Rolle – deutsche Unternehmen haben in der Regel versucht, in Abschwungphasen Mitarbeitende in Kurzarbeit zu schicken, anstatt sie zu entlassen – doch werden in Zukunft immer mehr europäische Länder technische Rezessionen erleben, die sich nur begrenzt auf die Beschäftigung auswirken werden. Und zwar, weil der Mangel an Arbeitskräften zunimmt.

Darüber hinaus sind viele Unternehmen derzeit noch davon gezeichnet, dass sie während des jüngsten Arbeitskräftemangels im Jahr 2022, als der Arbeitsmarkt extrem angespannt war,

Schwierigkeiten hatten, Arbeitskräfte zu finden. Daher ist es wahrscheinlicher, dass die Unternehmen beim nächsten Wirtschaftsabschwung Arbeitskräfte horten werden. Sie werden eher die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden reduzieren und versuchen, die Beschäftigten auf der Lohnliste zu halten, anstatt sie ganz zu entlassen, weil sie Schwierigkeiten haben könnten, schnell genug wieder Arbeitskräfte zu finden, sobald die Wirtschaft wieder anzieht.

Der folgende Graph zeigt, dass Unternehmen aller Branchen die derzeitige Situation bei der Einstellung von Arbeitskräften bereits als schwierig empfinden. Immer mehr Unternehmen geben an, dass Arbeitskräfte der begrenzende Faktor sind, der die Produktion einschränkt. Fehlende Arbeitskräfte schaden letztlich sowohl dem Gesamtniveau der Produktion als auch dem Produktivitätswachstum.

Nach Angaben des Forschungsinstituts IAB lag die Gesamtzahl der offenen Stellen Ende 2022 bei etwa 2 Millionen und wird Anfang 2023 immer noch bei etwa 1,75 Millionen liegen. Das ist deutlich mehr als die Gesamtzahl der Arbeitslosen – etwa 1,3 Millionen nach dem ILO-Maßstab.

Stepstone Forschung zeigt, dass die Kosten für eine unbesetzte Stelle bis zu 38.000 Euro betragen können. Angesichts des Arbeitskräftemangels wird es für Unternehmen immer schwieriger, Personal einzustellen. Die durchschnittliche Zeit bis zur Besetzung einer freien Stelle (Vakanzzeit) hat sich von etwa 50 Tagen Mitte der 2000er Jahre auf zuletzt mehr als 150 Tage verdreifacht. Der Arbeitskräftemangel schränkt also nicht nur die Produktion ein, sondern treibt auch die Einstellungskosten erheblich in die Höhe, da Personalvermittler*innen viele Monate brauchen, um bestimmte Stellen zu besetzen.

Die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt wird auch in der folgenden Grafik deutlich, in der die Gesamtarbeits-Nachfrage dem Gesamtarbeits-Angebot gegenübergestellt wird. Das Arbeitskräfteangebot ist die Gesamtheit der verfügbaren Arbeitskräfte, d. h. alle Beschäftigten und Arbeitslosen in der Wirtschaft. Die Nachfrage nach Arbeitskräften wird durch die Beschäftigung plus offene Stellen dargestellt. Der letzte Wert zeigt, dass nach diesem Maßstab derzeit etwa 650.000 Arbeitskräfte fehlen, und dass diese Zahl in absehbarer Zukunft aufgrund der alternden Erwerbsbevölkerung nur noch steigen wird.

„Vollbeschäftigungs-Rezession": Was bedeutet das für Recruiter*innen?

Auch wenn die deutsche Wirtschaft stagniert oder gar schrumpft, wird der Arbeitsmarkt in Deutschland sehr angespannt bleiben. Die demografische Entwicklung in Europa und insbesondere in Deutschland führt zu einem Arbeitskräftemangel, der sich mit der Zeit nur noch verschärfen wird. Schätzungen zufolge werden Deutschland schon bald mehrere Millionen Arbeitskräfte fehlen, wenn der jüngste Anstieg der Zuwanderung nicht aufrechterhalten werden kann und eine gewisse Entlastung bringt.

Diese Entwicklungen bedeuten, dass Deutschland, ähnlich wie Japan, mehr „Vollbeschäftigungs-Rezessionen" erleben wird, sofern sich das Produktivitätswachstum nicht deutlich beschleunigt.

Die jüngsten Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz sind zwar beeindruckend, werden sich aber erst in einigen Jahren auf die gesamtwirtschaftliche Produktivität auswirken – sowie es auch in der Vergangenheit einige Zeit gedauert hat, bis neue Technologien die Wirtschaft erheblich verändert haben. Und es ist noch zu früh, um zu sagen, in welchem Umfang diese neuen Technologien das künftige Wirtschaftswachstum grundlegend beeinflussen werden. Die jetzige Zeit könnte sehr wohl über den künftigen Erfolg eines Unternehmens entscheiden. Die Weichen müssen jetzt mit multinationalen, technik-affinen Teams gestellt werden, bei denen die Produktivität im Vordergrund steht. Und da sich die Arbeitsmärkte weiter anspannen werden und die Fluktuation der Arbeitskräfte zunimmt, ist die Chance für Unternehmen, sich einen Wettbewerbsvorteil im Kampf um Talente zu verschaffen, nicht nur groß – sie ist riesig.