Main image for post Trend: Chinesische Absolvent*innen werden „Vollzeitkinder"
„Vollzeitkinder" bzw. „Full-Time Children“ nennen sich derzeit Absolvent*innen auf Social Media, die sich dafür entscheiden, aufgrund mangelnder Arbeitsplätze zu ihren Elternhäusern zurückzukehren. Sie beteiligen sich an Hausarbeiten, kochen und erhalten finanzielle Unterstützung von ihren Eltern als Entschädigung.

Beginnen wir mit einer breiteren Perspektive: China hat mit tiefgreifenden demografischen Herausforderungen zu kämpfen. Im Januar 2023 bestätigte das Nationale Statistikbüro Chinas den ersten Bevölkerungsrückgang, einen Rückgang um 0,85 Millionen im Vergleich zu den Zahlen Ende 2021. Chinas Bevölkerung wird voraussichtlich kontinuierlich abnehmen, und Prognosen deuten auf ein Schrumpfen der Gesamtbevölkerung um 10 Millionen bis 2030 hin.

Des Weiteren hat die Erwerbsbevölkerung Chinas (16 bis 60 Jahre alt) laut United Nations Population Prospect 2022 bereits 2012 mit 926 Millionen ihren Peak erreicht, wobei der Anteil der Erwerbsbevölkerung bereits seit 2009 rückläufig ist. Die Verhältnisse am Arbeitsmarkt werden sich in den kommenden 50 Jahren komplett verschieben. Spätestens im Jahr 2080, wenn der Anteil der Rentner*innen den Anteil der Erwerbsbevölkerung in China übersteigen wird.

Die meisten westlichen Länder erleben eine ähnliche Entwicklung einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung. Einhergehend mit steigendem Arbeitskräftemangel und niedrigeren Arbeitslosenquoten. Dessen ist sich die Mehrheit der Absolvent*innen bewusst, die eine vielversprechende Zukunft erwarten: In einer kürzlich durchgeführten Stepstone-Umfrage bewerteten jüngere Mitarbeitende (20-29 Jahre) aus Deutschland, den USA und dem Vereinigten Königreich ihre Position auf dem Arbeitsmarkt als vorteilhaft und sahen sich im Verhandlungsprozess mit Unternehmen in einer stärkeren Position (Stepstone, Future.Work.Today., 2022).

Deswegen ist es nicht überraschend, dass viele entsprechend selbstbewusst bei der Jobsuche sind. Die Generation Z ist zweifellos gut ausgebildet, sie sind Digital Natives und mit digitalen Technologien aufgewachsen. Diese Aspekte machen sie für Arbeitgeber äußerst attraktiv. Auch wissen sie, dass sie eine relativ kleine Gruppe sind und ihr Wert entsprechend hoch ist.

Das Paradoxon von Überbildung und Arbeitslosigkeit

Der Arbeitsmarkt Chinas verändert sich: 16,62 Millionen neue Arbeitssuchende kommen in diesem Jahr hinzu. Diese Zahl wird voraussichtlich weiter steigen, dazu noch befeuert von erwarteten 11,6 Millionen Hochschulabsolvente*innen, wie Huai Jinpeng, Chinas Bildungsminister, verkündete. Besorgniserregende Statistiken unterstreichen diesen Trend: Die Arbeitslosenquote bei 16- bis 24-Jährigen erreicht einen Rekordwert von 21,3 %. Dies steht in starkem Kontrast zur Gesamtarbeitslosenquote von 5,3 %. Doch warum ist ein so großer Anteil der Absolvent*innen arbeitslos und zieht es nun sogar in Erwägung, sich als Haushaltshilfe bei ihren Familien anstellen zu lassen?

Die vielen Gründe hinter Jugendarbeitslosigkeit in China

Fehlen gut bezahlter, hochqualifizierter Jobs

Im Zuge der Diskussion wurden bereits verschiedene Faktoren diskutiert: Zunächst gibt es einen Mangel an gut bezahlten, hochqualifizierten Jobs. Obwohl sich Chinas Industrie in einem Veränderungsprozess befindet, ist der Übergang von arbeitsintensiven Industrien zu wertschöpfungsintensiven Branchen, wie Tech und high-level Dienstleistungen noch nicht abgeschlossen.

Ein Überangebot hochqualifizierter Absolvent*innen

Gleichzeitig hat China das größte Bildungssystem der Welt. Jedoch hat dieses zu einem Überangebot hochqualifizierter junger Menschen geführt, die dem limitierten Angebot an Beschäftigungsmöglichkeiten gegenüberstehen. Dies unterstreicht die Diskrepanz zwischen Bildungsabschlüssen und den bestehenden Anforderungen des Arbeitsmarktes.

Qualifikationsdiskrepanz

Viele Jobsuchende streben Positionen in der Immobilienbranche, im Finanzwesen und dem privaten Bildungswesen an. Dadurch herrscht ein starker Wettbewerb um die offenen Positionen und nur wenige können sich eine Anstellung sichern. Es ist jedoch nicht so, dass es keine Jobs gäbe. Während viele offene Stellen im Handwerk und in der Landwirtschaft zu besetzen sind, entsprechen diese nicht unbedingt den Vorstellungen der Bildungselite.

Steigende Lebenskosten

Die Situation wird weiterhin durch die steigenden Lebenshaltungskosten verschärft, welche das Lohnwachstum bereits überholt haben. Infolgedessen weigern sich junge Hochschulabsolvent*innen, das von den Unternehmen angebotene Gehaltsniveau zu akzeptieren. Manche ziehen schließlich als „Vollzeitkinder“ wieder bei ihren Eltern ein, wo sie als Haushaltshilfe wieder finanziell von ihren Eltern abhängig sind.

Also, was können wir aus diesem Trend lernen?

Zunächst ist der „Vollzeitkinder“-Trend das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen. Auch wenn die Zahl der offenen Stellenangebote in westlichen Märkten weiterhin hoch bleibt, können wir einige Aspekte auf uns übertragen.

Automatisierung und hochqualifizierte Jobs für Karriereentwicklung und wirtschaftliche Unabhängigkeit

Erstens wird ein Fehlen an gut bezahlten und hochqualifizierten Jobs langfristig gesehen Konsequenzen für die Karriereentwicklung einer gesamten Generation mit sich bringen. Nach Jahren des Studiums sind die jungen Erwachsenen noch immer finanziell abhängig von ihren Familien und können sich keine Unabhängigkeit und finanzielle Autonomie aufbauen. Weiterhin, wenn junge Menschen gezwungen sind, gering qualifizierte oder nicht verwandte Jobs anzunehmen, wird es für sie schwieriger ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln und Erfahrungen zu sammeln, die sie in ihrer Karriere weiter nach vorne bringen.

In Deutschland ist immer noch ein großer Teil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor angestellt. Dem Statistischen Bundesamt zufolge, zahlte fast einer in fünf Jobs weniger als 12,50 € brutto pro Stunde. Um diesem Problem entgegenzuwirken, müssen sowohl der Staat als auch Arbeitgeber in Automatisierung investieren um die Abhängigkeit von arbeitsintensiven Fertigungsaufgaben zu verringern und aber die Verfügbarkeit hochqualifizierter Arbeitsplätze zu erhöhen.

Match zwischen Fähigkeiten und Jobanforderungen sichern

Die zweite wichtige Lektion ist, dass persönliche Fähigkeiten mit den Anforderungen des Jobs übereinstimmen. Eine fehlende Passung wirkt sich nicht nur nachteilig auf die Motivation der oder des Einzelnen aus, sondern führt auch zu geringerer Effizienz, was sich wiederum negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirkt. Wie eine unserer neuesten Umfragen zeigt, müssen jedoch auch die westlichen Volkswirtschaften in diesem Punkt nachbessern: Denn nur einer von drei Arbeitnehmenden in Deutschland, dem Vereinigten Königreich und den USA berichten von einer vollständigen Übereinstimmung zwischen eigenen Skills und Arbeitsanforderungen (The Stepstone Group, The Engagement Advantage, 2023).

Höhere Gehälter boosten Automatisierung, Produktivität und hochqualifizierte Anstellungen

Drittens erhöhen steigende Lebenskosten den Druck auf jüngere Generationen. Viele berichteten über Schwierigkeiten ihre Lebenshaltungskosten zu decken. In Deutschland musste im November eine von fünf Personen auf ihre Ersparnisse zurückgreifen. Fast eine von zehn Personen musste einen zweiten Job annehmen oder staatliche Hilfe in Anspruch nehmen (Verband privater Bausparkassen, 2022). Höhere Gehälter würden nicht nur individuelle Bedürfnisse erfüllen, sondern auch Anreize für den Staat und für Unternehmen setzen, in die Automatisierung einfacher Tätigkeiten zu investieren und hiermit höhere Produktivität fördern, indem Arbeitskräfte in höherqualifizierte Tätigkeiten wandern.

Obwohl China mit einer etwas andere Situation auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert ist – das Phänomen „Vollzeitkinder“, ähnlich wie der Trend „Lying flat“ (die persönliche Ablehnung des gesellschaftlichen Drucks, Überstunden zu leisten und zu viel zu arbeiten), sind auch hierzulande zu beobachten. Die laufenden Debatten um die Kritik jüngerer Generationen an bestehenden Arbeitsmodellen gewinnen an Aufmerksamkeit. Die Entwicklungen in China und westlichen Volkswirtschaften unterstreichen jedoch die Notwendigkeit, Lösungen für die aufkommenden Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Es ist dringend notwendig, die Lücke zwischen Erwartungen der jüngeren Generation und den Realitäten des Arbeitsmarkts zu überbrücken. Die gute Neuigkeit ist: Wahrscheinlich geht es gar nicht um die Anzahl der Arbeitsstunden, sondern mehr um den Job an sich. In Anbetracht der steigenden Verhandlungsmacht junger Fachkräfte aufgrund des demografischen Wandels, finden sich Unternehmen in einer hervorragenden Ausgangslage wieder, ihre Konkurrenz auszustechen, indem sie Arbeitsplätze schaffen und besetzen, die wirklich wichtig sind.